Flavio Longaretti ist Eingliederungsfachmann bei der IV-Stelle Kanton Bern. Im Porträt erzählt er, was ihm an seiner Arbeit besonders gefällt, was ihn antreibt und welches eigentlich seine Aufgabe in dieser Funktion ist.
Beitrag von Matthias Zobrist, 6. April 2023
Beschreibt Flavio Longaretti seine Arbeit als Eingliederungsfachmann in einfachen Worten, hört sich das so an: «Stellen Sie sich vor, unsere Versicherten sind Profisportlerinnen und Profisportler, die eine Verletzung erlitten haben. Sie können nicht mehr trainieren, geschweige denn einen Match spielen. Gemeinsam mit ihnen schaue ich, was sie brauchen, damit sie wieder ins Training einsteigen und die Intensität langsam steigern können. Das Ziel ist, dass sie wieder voll einsatzfähig werden. Vielleicht sind zuerst nur Teileinsätzen möglich. Idealerweise können sie mit der Zeit aber wieder ein ganzes Spiel bestreiten und mindestens gleich viele Tore schiessen oder Punkte machen wie früher.» Der Eingliederungsfachmann unterstützt und motiviert die versicherten Personen auf diesem Weg. Natürlich ist in der Realität ein solch traumhaftes Comeback nicht immer möglich. Das von Flavio Longaretti gezeichnete Bild beschreibt dennoch sehr greifbar seine Aufgabe. Zudem zeigt es auch, wie er seine Arbeit angeht: mit viel Engagement, positivem Denken, klarer Zielsetzung und dem Wissen, dass der Weg zurück immer individuell ist.
Auf geplanten Umwegen zum Ziel
Auch sein eigener Werdegang ist ein individueller. Statt das Gymnasium zu besuchen, absolvierte Flavio Longaretti eine Lehre zum Automechaniker. «Ich habe mich schon immer sehr für Autos interessiert und wollte einfach möglichst viel über sie lernen», beschreibt er seinen Antrieb. Trotz seiner Leidenschaft für Autos wusste er bereits beim Ausbildungsstart, dass er später beruflich noch einen anderen Weg einschlagen wird. So holte er bald nach seinem Abschluss die Berufsmaturität nach und studierte anschliessend an der Fachhochschule Soziale Arbeit. Auch hier hatte er relativ bald einen Plan, wie es einmal weitergehen sollte: Als Eingliederungsfachmann bei der IV arbeiten. Zuerst wollte er aber anderswo Berufserfahrung sammeln, bis er sich für diese Aufgabe bereit fühlte. Vor gut 3 ½ Jahren hat Flavio Longaretti den Wechsel zur IV gemacht und diesen noch zu keinem Zeitpunkt bereut. Er sei beeindruckt gewesen, wie klar strukturiert die verschiedenen Prozesse und Abläufe bei der IV sind und wie er mit verschiedenen Instrumenten beim einheitlichen und effizienten Arbeiten unterstützt wird. Zudem dürfe er eine sehr sinnstiftende und abwechslungsreiche Arbeit machen. Dies unter anderem, weil er mit den unterschiedlichsten Menschen zusammenarbeiten kann und es deshalb auch kein Patentrezept gibt, um eine Person wieder in den ersten Arbeitsmarkt einzugliedern.
Damit das gelingen kann, müssen versicherte Person und IV zusammenarbeiten und gemeinsam Lösungen suchen. Diese Zusammenarbeit beginnt rasch: Spätestens 30 Tage nach der Anmeldung findet ein persönliches Erstgespräch mit einer Eingliederungsfachperson statt. Und der Austausch bleibt während des gesamten Eingliederungsprozesses wichtig. Hier kommt Flavio Longaretti immer wieder sein Werdegang zugute: «Ich hatte vor kurzem ein Erstgespräch mit einem Automechaniker. Er war sehr zurückhaltend und dachte wohl: 'Die bei der IV arbeiten ja nur im Büro und haben sowieso keine Ahnung.' Als ich ihm erzählte dass ich früher als Automechaniker gearbeitet hatte, hatte ich sofort einen ganz anderen Zugang zu ihm.» Für ihn sei das sehr wichtig bei seiner Arbeit. «Die Menschen sollen merken, dass ich sie ernstnehme, ein ehrliches Interesse an ihnen habe und mit ihnen einen Weg zurück in die Arbeitswelt finden will.»
Es braucht Ausgleich und Abgrenzung
Auch wenn sich Flavio Longaretti für die Menschen hinter seinen Dossiers interessiert, kann er dennoch die nötige Distanz wahren. Er finde es wichtig, Mitgefühl für die versicherten Personen haben. Nur so könne er ihre Situation wirklich erfassen, ihr Vertrauen gewinnen und sie erfolgreich auf ihrem Weg begleiten. «Mitgefühl ist aber nicht dasselbe wie Mitleid. Denn das ist falsch und bringt beiden Seiten nichts», ergänzt er. Verfolgt ihn trotzdem einmal eine Geschichte bis nach Hause, hat Flavio Longaretti zwei Strategien. Einerseits ist da sein Hobby, bei dem er sehr gut abschalten kann: das Boxen. Hat er kein Training oder geht ihm eine versicherte Person trotz der körperlichen Betätigung nicht aus dem Kopf, denkt er einfach an den nächsten Tag: «Ich überlege mir, mit welchen konkreten Schritten und Massnahmen ich sie unterstützen kann. Das bringt viel mehr, als wenn ich mir den Kopf über Dinge zerbreche, die sich sowieso nicht ändern lassen.» In der Rolle des Trainers würde das also bedeuten: Es hat keinen Sinn, sich zu viele Gedanken über das gerissene Kreuzband oder die Schulterverletzung zu machen. Viel wichtiger ist es, den Weg zurück an die Spitze nicht aus den Augen zu verlieren und hart daran zu arbeiten.